Psychosen und Neurosen in der Philosophischen Praxis
Definitionen & Begriffe,  Gedanken & Impulse,  Theorien & Konzepte

Neurosen & Psychosen

Neurosen und Psychosen spielen eine wesentliche Rolle in der Psychologie – sei es nun im erkenntnistheoretischen oder therapeutischen Kontext. Dennoch ist hier Vorsicht geboten, denn es handelt sich um Pathologisierungen, die auch immer mit dem Zeitgeist in Verbindung stehen. Nicht selten in der Geschichte wurde diese Form von Pathologisierung als politisches oder gesellschaftliches Machtinstrument genutzt. Wer krank ist, den muss man nicht ernst nehmen. Und somit ist jegliche Bedrohung der eigenen Wahrnehmung oder Anschauung, jede Kritik, jeder Störfaktor vom Tisch.

Diese Problematik wird in den Geisteswissenschaften nach wie vor breit diskutiert. Vor allem die Frankfurter Schule hat sich damit ein Gebiet erschlossen, das nach wie vor nicht an Relevanz verliert. Was ist krank, was ist gesund? Können wir eine kapitalistische Leistungsgesellschaft, die Individuen wie Maschinen behandelt wirklich als Norm setzen? Adorno sagte einmal, es sei kein Zeichen für Gesundheit, angepasst an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein. Ähnlich argumentiert die Neo-Psychoanalytikerin Karen Horney, für die Neurosen Ergebnis soziologischer Faktoren sind. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

Ich nehme die Begrifflichkeiten Neurose und Psychose hier dennoch auf um die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Zugänge der Psychoanalyse (nach Freud), Individualpsychologie (nach Adler) und Existenzanalyse (nach Frankl) hieran zu verdeutlichen und damit ein besseres Verständnis für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Denkrichtungen zu schaffen.

Freud: Neurose als Ausdruck der Verdrängung

Der klassischen Psychoanalyse nach ist das neurotische Symptom Ausdruck der verdrängten Libido: Unbewusste Phantasien und Wünsche, die entweder nicht sozialverträglich sind oder aus anderen Gründen nicht ausgelebt werden können und deshalb vom Bewusstsein verdrängt werden. In Freuds Instanzen-Modell gesprochen: ein Konflikt zwischen dem Es und dem Über-Ich, worauf das Ich mit Abwehr reagiert und verdrängt. Psychoanalytisch gesehen ist die Neurose also eine Einschränkung des Bewusstseins.

Ziel einer psychoanalytischen Behandlung ist es, den Ursprung der Neurose – den verdrängten Wunsch oder das Phantasma ins Bewusstsein zu holen um dem Symptom damit auf die Schliche zu kommen. Im übertragenen Sinne das Licht anzuknipsen, um die dunklen Ecken des Unbewussten zu beleuchten: Denn wo Es war, so Freuds vielzitierter Ausspruch, soll Ich werden.

Eine Psychose hingegen ist kein innerer Konflikt zwischen Es und Über-Ich, sondern eine generelle Abkehr von der Außenwelt. Die geforderte Kompromissbildung zwischen Innen und Außen, Ich und Anderen, Triebauslebung und Verzicht die unser Leben in einer Gemeinschaft so prägt, wird abgelehnt. Das Außen wird plötzlich geleugnet, was zu einer Einkapslung im Innen führt und den Menschen nach Freud nicht mehr zugänglich macht. Er ist gefangen in sich selbst.

»Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen«

Freud 1924e: 365

Adler: Neurose als Ausdruck eines dominierenden Minderwertigkeitsgefühls

Was in Freuds Psychoanalyse die Verdrängung ist, ist bei Adler der Begriff des Arrangements: Der Individualpsychologie zur Folge versucht man sich durch die Neurose seiner Eigenverantwortung zu entledigen indem man Symptome erzeugt, die einem davon abhalten sollen eben dieser Nachzukommen. Das neurotische Ich ist hierbei also gekennzeichnet durch die Einschränkung der Verantwortung. Es ist ein Konflikt zwischen Wollen und Handeln, der sich durch das Symptome Ausdruck verleiht. Das Symptom verfolgt also einen gewissen Zweck, ist zielgerichtet: Ein Mensch in der der Neurose fühlt sich den Aufgaben des Lebens nicht gewachsen und kreiert fortwährend eine Entschuldigung in Form einer Krankheit, die ihm die Verantwortung im Leben abnehmen soll. Zugrunde liegt laut Adler ein unzureichender Lebensplan, der mit den Anforderungen der Gemeinschaft und des Lebens kollidiert. Es ist letztendlich das Minderwertigkeitsgefühl, dass in der Neurose dominiert.

Die Psychose hingegen zeichnet sich auch bei Adler durch eine Realitätsflucht aus: In der Psychose verliert sich der Mensch in einer einsamen Scheinwelt und isoliert sich von der Gemeinschaft, deren Logik und Vernunft er nicht mehr anerkennt. Er gibt sich komplett seiner eigenen, privaten Logik hin und begräbt den Wunsch der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Er fühlt sich missverstanden und dadurch bedroht, weshalb er sich noch weiter abwendet.

In der Neurose will der Mensch also Teil der Gemeinschaft sein, verhält sich aber so, dass er das vermeintlich nicht kann, während er sich in der Psychose komplett von der Gemeinschaft abwendet.

Frankl: Neurose als Ausdruck von Sinnsuche und Orientierungslosigkeit

Für Frankl liegt der Kern dessen, was gemeinhin als Neurose bezeichnet wird in einer existenziellen Frustration. Neurotische Symptome resultieren seiner Erfahrung nach oft aus einem Mangel an Sinn und Bedeutung im Leben. Frankl argumentiert, dass die Suche nach Sinn eine grundlegende menschliche Motivation ist und dass das Fehlen von Sinn eine Leerstelle hinterlässt die sich dann symptomatisch äußern kann.

In seiner Existenzanalyse versucht Frankl, die beiden zuvor genannten Theorien zu vereinen. Laut ihm verengen sowohl die psychoanalytische, als auch die individualpsychologische Sicht mit ihrem Fokus auf einen Teilaspekt der Neurose den Blick aufs Ganze. Die ursprünglichen Grundlagen menschlichen Seins, also Kern des Daseins ist nach Frankl nämlich kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch:

»Mensch-sein bedeutet Bewußt-sein und Verantwortlich-sein.«

Frankl 2022: 28/29

Für Frankl entsteht eine Neurose, wenn ein Mensch seine existenzielle Freiheit nicht angemessen nutzt oder wenn er sich den Herausforderungen des Lebens nicht auf sinnvolle Weise stellt. Er sieht die Neurose als eine Art von Noödynamik oder Mangel an Geistigkeit, bei der die Person das Gefühl hat, dass ihr Leben leer oder sinnlos ist. Sein Ansatz ist es deshalb, den Menschen dabei zu helfen, Sinn in ihrem Leben zu finden, indem er ihre individuelle Verantwortung und ihre Fähigkeit zur Selbsttranszendenz betont.

Anders als Freud und Adler stellt Frankl also den Geist und nicht die Seele in den Fokus seiner Arbeit. Er bezeichnet seine Psychologie deshalb als Höhenpsychologie, in Abgrenzung zur Tiefenpsychologie: Während es in der Tiefenpsychologie um das Hinuntersteigen in die Tiefen der Seele geht, soll der Begriff Höhenpsychologie das Hinaufsteigen in die Höhen des Geistes veranschaulichen. Der Bereich des Geistigen ist eben jener, der Sinn und Werte beinhaltet oder kreiert. Ein existenzanalytischer Bereich des Sollens, den Frankl dem psychoanalytischen Bereich des (kausalen) Müssens und dem individualpsychologischen Bereich des (finalen) Wollens hinzufügt.

Frankl betont auch, dass die Suche nach Halt in Sinn und Werten etwas existenzielles ist und somit alle Menschen betrifft – nicht nur solche mit neurotischen Symptomen. Obgleich Menschen, die der klinischen Psychologie nach als seelisch erkrankt gelten, ggf. ein größeres Bedürfnis nach Halt verspüren, weil innere Unsicherheiten in neurotischen Phasen eher zum Vorschein kommen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist jedoch keinesfalls pathologisch sondern philosophisch.

Diagnosen über vermeintliche psychische Erkrankungen werden deshalb meiner Überzeugung nach viel zu leichtfertig verteilt. Gerade in einer Zeit der Orientierungslosigkeit, wie wir sie momentan erleben ist die Suche nach Halt und Sinn allgegenwärtig und äußert sich in unterschiedlichsten Facetten. Was es hier braucht ist Haltung statt Heilung. Reflexion statt Therapie. Gespräche statt Medikamente.

Und die Erkenntnis, dass man mit seinen Unsicherheiten nicht alleine sondern eben genau dadurch auch Teil der Gemeinschaft ist.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert