Ambivalenz vs. Individualität
Ich mach es, ich mach es nicht… Sind wir in unserer Persönlichkeit hinsichtlich gewisser Entscheidungen manchmal tatsächlich gespalten? Rudolf Dreikurs behauptet: Keineswegs. In seinem individualpsychologischen Klassiker, indem er die Lehren Adlers zusammenfasst und interpretiert, geht er von einer unteilbaren, individuellen (in-dividere) Persönlichkeit aus. Ganz im Gegensatz zum Common-Sense der damaligen Wissenschaft: Diese betrachtete den Menschen nämlich als grundsätzlich ambivalent, hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Kräften: Verstand und Gefühl, Bewusstsein und Unbewusstsein, Subjekt und Objekt… Ein Bild, das auch heute noch stark kursiert. Für Adler ist dieser Dualismus ein Selbstbetrug, eine Konstruktion von Gegensätzen, die das eigentliche Ziel des Menschen verschleiern soll. Immer dann, wenn ein Mensch sich nicht offen zu seinem zugrundeliegenden Ziel bekennt (vor anderen wie vor sich selbst) kommt eine vermeintliche Bipolarität zustande, die dazu dient, die Verantwortung für die eigentliche Entscheidung und die Anerkennung über die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit von sich weisen zu können.
»Wenn man die Zielstrebigkeit des Menschen erkennt, gibt es keine wirkliche Ambivalenz.«
Rudolf Dreikurs
Aus individualpsychologischer Perspektive ist es unmöglich, sich gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen zu bewegen. Die Ambivalenz ist also eine scheinheilige: Während die eine Richtung die des gesetzten Zieles markiert, dient die andere der zur Schaustellung des guten Willens oder der empfundenen Unmöglichkeit, die Verantwortung für die getroffene Entscheidung zu übernehmen. “Ich kann mich nicht entscheiden” würde dann soviel bedeuten wie: “Ich kann meine Entscheidung nicht rechtfertigen und will die Verantwortung für meine Entscheidung nicht tragen. Deshalb brauche ich die Ambivalenz um Zeit zu gewinnen und mir die Verantwortung noch weiter vom Hals zu halten.” Sobald man aber die eigene Zielsetzung erkennt, offenbart und ggf. korrigiert, kann diese scheinheilige Ambivalenz durch Klarheit und Entschlossenheit ersetzt werden.
Gefühl vs. Verstand?
Gefühle sind wichtig, keine Frage. Doch sollten wir sie nicht als Meister, sondern als Werkzeuge betrachten. Sie dem Verstand nicht gegenüber, sondern daneben stellen. Gefühle sind Fähigkeiten des Menschen, die er dafür nutzen kann, seine Ziele zu erreichen. Ebenso wie das Denken und alle geistigen und physischen Kräfte. Gefühl und Verstand arbeiten nicht gegeneinander, wie es gemeinhin oft angenommen wird und wir es uns selbst oft einreden. Die Kraft, die unsere Gefühle in uns einnehmen, geben wir ihnen selbst. In Momenten, in denen unser Verstand eine Einsicht zu haben scheint, die das Gefühl bekämpft oder andersrum, deutet das für Dreikurs und Adler darauf hin, dass wir uns mit dieser vermeintlichen Einsicht über unsere tatsächlichen Beweggründe hinwegtäuschen. Wir vereiteln unser eigentliches Ziel. Nur wenn wir die Persönlichkeit des Menschen als Einheit wahrnehmen und aufhören sie zu fragmentieren, können wir die Fähigkeit zur Freiheit erlangen und Verantwortung für unser Handeln übernehmen.