Das Verhältnis von Individualität, Gemeinschaft und Masse
Wer seine Individualität auslebt ist nicht gemeinschaftstauglich? Ein Vorurteil, das mir immer wieder begegnet. Was aber auf einem begrifflichen Missverständnis beruht: Individualität ist nicht gleich Egoismus oder Egozentrik. Während wir mit letzteren Eigenschaften tatsächlich an die Grenzen der Sozialverträglichkeit stoßen, schaffen wir mit dem Leben der eigenen Individualität erst die Bedingung für Gemeinschaft.
So sieht das auch Viktor Frankl: Gemeinschaft und individuelle Existenz konstituieren einander. Er veranschaulicht diese These mit dem Vergleich eines Mosaik-Werks: Der einzelne Stein- mag er auch noch so bunt sein – wird nur durch das Gesamte, die Anordnung mehrerer individueller Steine zu Mosaik. Während die vielen kleinen, unterschiedlichen Steine also das Mosaik-Werk hervorbringen, macht das Mosaik-Werk den einzelnen Stein erst zu einem Mosaik-Stein. Ebenso wie das Individuum auf die Gemeinschaft angewiesen ist, braucht die Gemeinschaft Individuen. Sonst verkäme sie zur Masse, die keine Individualität zulässt. Gleichzeitig geht der Wert der Individualität in der Gemeinschaft auf und wird zum Gemeinschaftswert, während der Gemeinschaftswert auf das Individuum übertragen, zum individuellen Wert werden kann.
Doch wie unterscheidet sich nun die Gemeinschaft von der Masse? Eben in der fehlenden und nicht erwünschten Individualität: Masse fordert Norm und Norm steht dem Anders-Sein der Person entgegen. Frankl vergleicht die Masse mit einer Straße, die aus genormten, grauen Steinen besteht, die so sehr ineinander übergehen und sich so sehr gleichen, dass man die Individualität der Steine nicht mehr erkennt bzw. diese überhaupt nicht gegeben ist – es ist nur eine einzige Straße, eine einzige Masse grauer, genormter Stein.
Diese Analogie finde ich sehr treffend. Ein Blick in unsere Gesellschaft bestätigt dies. Und beantwortet vielleicht auch die Frage, weshalb wir uns manchmal – obwohl wir von vielen Menschen umgeben sind – dennoch alleine fühlen. Gleichzeitig hat die anonyme Masse aber auch einen gewissen Reiz. Dieser Reiz liegt vielleicht genau darin, dass sie uns unsichtbar macht. Unsere Individualität nicht hervorhebt sondern eher negiert. So neigt der ein oder andere auch dazu, in eben diese Masse zu fliehen. Was nach Frankl allerdings einer Selbstverleugnung gleichkommt: Flucht in die Masse heißt Abgabe der Eigenverantwortung. Und zu dieser sind wir verpflichtet.
Mehr dazu hier: Freiheit, Schicksal und Verantwortung