In der philosophischen Praxis geht es um Haltung und nicht um Heilung.
Gedanken & Impulse

Haltung statt Heilung

Der Gesundheitsmarkt boomt – Heilversprechen erhält man heute gefühlt an jeder Ecke: Sei es die Auflösung energetischer Blockaden oder verdrängter Traumata. Die Arbeit mit dem inneren verletzten Kind oder die Vertreibung irgendwelcher Fremdenergien, die das eigene System besetzt haben sollen. Wir können unsere Ahnenreihe heilen und über selbsternannte Medien mit Engeln kommunizieren. Die Auswahl ist groß, das Geschäft auch.

Was all diesen Anbietern gemein ist, ist die Vorstellung, Ihre Kunden benötigen Heilung. Und die Konsumenten denken das zu großen Teilen auch. Aber ist dem wirklich so?

Ich spreche hier nicht von Menschen, mit ernsthaften psychischen oder körperlichen Erkrankungen. Sondern von jenen, die sich nicht krank genug für eine Psychotherapie aber auch nicht gesund genug zur Bewältigung ihrer Lebensaufgaben fühlen. Die stetig auf der Suche nach sich selbst sind: auf Retreats, Workshops oder einer alternativen Behandlungsmatte.

Doch brauchen diese Menschen wirklich eine Behandlung? Wovon genau müssen sie dann geheilt werden? Von ihren eigenen, mentalen und emotionalen Verstrickungen?

Natürlich, wir alle haben Denk- und Glaubensmuster und ja, diese beruhen auf Prägungen familiärer, sozialer oder gesellschaftlicher Natur. Und manchmal behindern sie uns. Wir werden in die Welt geworfen und tragen unsere Schicksale, manche wiegen mehr, andere sind leichter.

Doch wir alle haben auch die Möglichkeit – sogar die Pflicht, uns zu diesen Schicksalen zu verhalten. Und wie genau wir das tun, darin sind wir frei. Und zwar jeden Tag aufs Neue. Wir müssen nicht erst irgendwelche Wunden heilen oder Energieblockaden lösen um uns wie erwachsene, gesunde Menschen unseren Pflichten zu stellen. Wir müssen uns auch nicht selbst finden, weder im indischen Ashram, noch im Schweigekloster. Wir sind längst da! Hier, jetzt, in diesem Moment. Unser Sein verwirklicht sich im Tun, nicht im selbstzentrierten Denken.

Manchmal vergessen wir das. Das wir sind. Und wer wir sind. Dann fühlt es sich so an, als stünden wir auf einem Boot auf hoher See und könnten das Ruder nicht lenken, weil der Sturm und die Wellen uns stetig von einer auf die andere Seite peitschen.

Es gibt solche Momente und diese haben ihren Grund. Hier lohnt es sich inne zu halten. Für einen kurzen Moment aus dem Strom des Lebens auszusteigen und zu reflektieren: Wer bin ich eigentlich? Was ist mir wichtig? Und wo will ich überhaupt hin?

Die Antwort auf diese Fragen geben uns aber weder irgendwelche Engel, noch Schamanen oder Heilpraktiker. Allein wir selbst können das entscheiden. Denn ja, es ist eine Entscheidung. Wir selbst entscheiden, wie wir denken und fühlen, welche Werte wir verwirklichen und welche Ziele wir verfolgen.

Solange diese Fragen nicht entschieden sind, machen wir uns anfällig für Manipulationsversuche. Setzen uns mehr oder weniger professionellen Zuschreibungen aus und lassen uns immer wieder irgendwelche Heilsversprechen verkaufen, die uns nur noch tiefer in die Unsicherheit und gleichzeitig in eine Abhängigkeit stürzen.

Dabei sind wir in den überwiegenden Fällen gar nicht krank, benötigen gar keine Heilung oder Optimierung. Sondern lediglich eigene, ehrliche und mutige Selbsterkenntnis. Durch Selbstreflektion. Denn Erkenntnis schafft Bewusstsein. Und nur mit einem Bewusstsein darüber, wer man ist, wofür man steht und was man will, kann man eine klare Haltung einnehmen, sich durch Entschlossenheit aus dem Zustand des hin- und hergerissen seins befreien und das Ruder seines Lebens wieder selbst in die Hand nehmen.

Das Dilemma der Selbstverwirklichung

Orientierungslosigkeit und Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Identität, den persönlichen Werten oder den individuellen Zielen sind in unserer Zeit fast schon die Norm. Die Kirche, welche uns früher die Regeln vorgab hat längst an Einfluss verloren und auch das Modell der Familie verändert sich stark. Ganz zu Schweigen von unserer Politik.

Das heutige Narrativ lautet: Anything is possible! Und auch wenn das natürlich eine Lüge ist, stehen wir alle unter diesem wahnsinnigen Druck der Selbstverwirklichung. Denn diese hat auch eine Kehrseite: Nämlich die Eigenverantwortung. Wenn ich selbst verantwortlich für mein Tun und Sein bin, dann trage ich auch die alleinigen Konsequenzen. Das erzeugt Angst.

Die Rolle des Kranken, Traumatisierten oder Suchenden verspricht Aufschub: Sich noch nicht festlegen zu müssen, noch nicht verantwortlich zu sein. Sich dem Aufgabencharakter des Lebens noch einen Moment entziehen zu können. Erstmal heilen, den Sinn des Lebens finden, in diesem oder jenen Podcast.

In der japanischen Schriftsprache sind Begriffe symbolisch angeordnet und zusammengestellt. Das Wort Ausruhen zeigt einen Menschen, der sich an einen Baum anlehnt: Mensch + Baum = Ausruhen. Ich denke, wir alle wünschen uns hin und wieder diesen Baum. Und manchmal projizieren wir diesen Wunsch dann ins Außen: auf Menschen, Techniken oder Orte, die uns diese Baumfunktion anbieten. Die uns vermeintlich von der Last der Verantwortung befreien.

Dabei wächst der Baum der uns wirklich Halt gibt nur in uns selbst. Wir müssen uns aber entscheiden, ihn regelmäßig zu wässern. Das gelingt durch philosophische Selbstreflexion. Eben das verschafft uns den inneren Halt – die aufrechte Haltung eines Baumes, an dem wir uns anlehnen und ausruhen können. Was uns Kraft gibt, um uns den Aufgaben des Lebens zu stellen und damit unsere Individualität zu leben.

Siehe dazu: Was ist eine philosophische Praxis?

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