Die Lebensaufgaben nach Adler
Glück und Zufriedenheit hängen in der Individualpsychologie Alfred Adlers maßgeblich von unserem Gemeinschaftsgefühl ab: Der Art und Weise, wie wir Beziehungen und Gemeinschaft gestalten. Ein wichtiges Element in seiner Theorie sind die Lebensaufgaben, welche die Forderungen der menschlichen Gemeinschaft repräsentieren: Beruf, Liebe und soziale Eingliederung.
In all diesen Lebensbereichen geht es um harmonische und respektvolle Beziehungen, die eine Anerkennung der eisernen Logik menschlicher Gleichwertigkeit erfordern. Das Gemeinschaftsgefühl muss dabei mit dem eigenen Selbstwertgefühl kohärent sein um weder eine Überanpassung (auf Kosten der Individualität) noch eine Unteranpassung (auf Kosten der Gemeinschaft) zu erzeugen.
Mehr zum Verhältnis Individualität, Gemeinschaft und Masse hier.
Sobald die eiserne Logik menschlicher Gleichwertigkeit gebrochen wird, indem wir uns selbst gegenüber der beruflichen, partnerschaftlichen oder sozialen Gemeinschaft unter- oder überbewerten, greift das unser Gemeinschaftsgefühl an und wir fangen an zu strugglen. Im schlimmsten Fall wirkt sich dieser Struggle in Form von Symptomen aus, häufig bemerken wir diese Inkohärenz aber bereits an dysfunktionalen Beziehungen oder existenziellem Frust.
In den Grundbegriffen der Individualpsychologie beschreibt Rudolf Dreikurs die spezifischen Herausforderungen der Adlerschen drei Lebensaufgaben. Später soll er diese um zwei weitere Bereiche ergänzen: Die Beziehung zu sich selbst und die Beziehung zum Weltall – was unter dem heutigen Begriff der Spiritualiät (in Abgrenzung zur Esoterik) gefasst werden kann. Ich fasse diese beiden Bereiche hier unter einem einzigen zusammen: Die Ich-Kosmos-Beziehung.
Lebensaufgabe Beruf
Der Beruf ist nach Dreikurs der Lebensbereich, der das wenigste Gemeinschaftsgefühl bedarf. Weshalb er oft zur Kompensation der anderen Lebensaufgabe genutzt wird, durch seine Anforderungen aber gleichzeitig auch negative Auswirkungen auf das eigene Selbstbild haben kann.
Tatsächlich ist die Berufswelt seinerzeit – meines Erachtens nach leider auch heute noch – eben dadurch ausgezeichnet, dass beruflicher Erfolg gerade durch ein sich durchsetzen gegenüber der Konkurrenz definiert wird. Der innere Antrieb, der unter den Mitarbeitern in vielen Branchen vorherrscht, kann mit Adler als ein Versuch gedeutet werden, durch herausragende Leistung das eigene Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Was dazu führt, dass das Verlieren in diesem Konkurrenzkampf – ein sich nicht über die Anderen stellen zu können – ein Gefühl des persönlichen Scheiterns hervorruft.
Hier helfen folgende Reflexionsfragen: In welchem Maße mache ich meinen Selbstwert abhängig von meinen beruflichen Erfolgen? Wie kann ich Erfolg für mich gemeinschaftstauglich neu definieren?
Lebensaufgabe Liebe
Liebe und Partnerschaft ist in den meisten Fällen der Bereich, der die meisten Auswirkungen auf unser existenzielles Wohlbefinden hat. Nach Dreikurs ist es gleichzeitig die schwierigste der drei Lebensaufgaben. Die Ursache dafür sieht er im von der Demokratisierung und Emanzipation geprägten Zeitgeist seiner Zeit. Vieles davon trifft meines Erachtens auch heute noch zu und hat sich zum Teil sogar verschärft:
In früheren Zeiten waren Geschlechterhierarchien klar geregelt: Der Mann war der Frau in nahezu allen Bereichen überlegen und die Frau hatte sich dem Mann unterzuordnen. Die Spielregeln waren bekannt. Bis dieser haarsträubende Irrtum der Unterlegenheit der Frau die gesellschaftliche Ordnung ins Wanken brachte: Das emanzipierte Narrativ ist (absolut zu Recht!) die Augenhöhe. Auch andere Spielarten der Beziehungsgestaltung, Homosexualität, Queerness, etc. gewinnen gesellschaftlich an Da-Seins-Berechtigung und verändern die Norm.
Alte Phantasmen – Neue Ideale
Das Patriarchat verlässt uns jedoch nicht ohne jahrhunderte alte Abdrücke: Bilder und Idealvorstellungen, die aus früheren Zeiten stammen und obwohl gesellschaftlich inzwischen verpönt, innerpsychisch noch immer ihre Wirkkraft entfalten. Wie das des Mannes als Versorger und der Frau als Fürsorgerin etwa. Oder das Bild der aufopfernden Mutter, des perversen Homos, etc.
Diese Bilder erzeugen unweigerlich innere Konflikte, die sich in ihren individuellen Ausprägungen erstaunlich ähnlich sind: Es scheint so etwas wie eine Sehnsucht aus alten Zeiten in den Phantasmen und unbewussten Vorstellungen der Frau zu geben, die sich nach einem überlegenen, versorgenden Mann sehnt, während ihr modernes Selbstbild diesen Unterwerfungswunsch boykottiert. Der Mann wiederum scheint eine unbewusste Vorstellung der eigenen vermeintlichen Überlegenheit in sich zu tragen, die ihn dazu veranlasst die eigene Schwäche und Bedürftigkeit zu verstecken.
Hinzu kommt, dass die Zuschreibungen an Männlichkeit und Weiblichkeit immer unklarer und diffuser werden. So eben auch die Rollen innerhalb einer Partnerschaft oder Ehe, was die Unsicherheiten hinsichtlich des eigenen Selbstbildes wie auch des Partners wechselseitig verstärkt. Und damit auch die Vorstellung davon, was Liebe bedeutet oder was Ehe eigentlich genau erfordert. Die Spielregeln sind unklar und zu individueller Verhandlungssache geworden. Eine Verhandlung, welche ein konkretes Bewusstsein über die eigenen Wünsche und Vorstellungen erfordert. Ebenso wie die Bereitschaft, die Bedürfnisse des Partners oder der Partnerin als vollkommen gleichwertig anzuerkennen. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz wie man so schön sagt.
So erscheint die Ehe und auch die Liebe mittlerweile vielen als Lebensaufgabe, die kaum bestritten werden kann, während die Sehnsucht nach einer solch intimen Verbindung jedoch immer größer zu werden scheint.
Laut Dreikurs besteht ein nicht selten benutzter Lebensplan deshalb darin, dieser Lebensaufgabe durch falsche Partnerwahl auszuweichen. Das eigene Scheitern kann dann auf den nicht geeigneten Partner oder die unfähige Partnerin zurückgeführt und gerechtfertigt werden. Vor sich selbst und vor den Anderen.
Schaffen wir es jedoch, die innere Bereitschaft und den Mut aufzubringen, uns dieser Lebensaufgabe nach bestem Wissen und Gewissen zu stellen und unseren Partner ungeachtet seiner Fehler und Schwächen zu bejahen, eine bedingungslose Entscheidung füreinander zu treffen, auftretende Konflikte als gemeinsame anzuerkennen und zu bearbeiten, während wir uns stets gegenseitig in unserem unbedingten Wert anerkennen und respektieren, können wir die Lebensaufgabe Liebe nach Adler und Dreikurs erfüllen.
Lebensaufgabe soziale Eingliederung
Im Lebensbereich der sozialen Eingliederung sind alle Interessen und Tätigkeiten gemeint, die gemeinschaftlich stattfinden. Sei es der Freundeskreis, der Verein, ein Ehrenamt oder die erweiterte Familie. Überall dort, wo wir im sozialen Sinne gebraucht werden hat dies wesentlichen Einfluss darauf, ob wir uns eingebunden oder einsam fühlen.
Für Adler und Dreikurs ist dieser Bereich deshalb maßgeblich für unser Gemeinschaftsgefühl. Menschliches Verhalten und (vermeintliche) Anforderung der Gemeinschaft stehen in einer untrennbaren Wechselbeziehung. Nicht selten misslingt diese Wechselbeziehung: So kann ein Mensch sich stets so verhalten, wie er meint, dass es von ihm erwartet wird, weil er denkt, eben das sichere ihm seinen Platz in der Gemeinschaft. Ein anderer wird stets in den Kampf ziehen, um seine vermeintlichen (Sonder-)Rechte innerhalb der Gemeinschaft durchzukriegen. Der eine stellt sich damit unter – der andere über die Mitglieder, die eine Gemeinschaft erst zu einer solchen machen. Vergessen wird dabei, dass man ja selbst die Gemeinschaft ist – dass man als Mitglied immer auch Teil eines Ganzen ist.
Inwieweit das Bewusstsein darüber vorhanden ist, sprich – wie ausgeprägt das Gemeinschaftsgefühl ist, entscheidet letztendlich darüber, ob wir an der Lebensaufgabe Gemeinschaft verzweifeln oder diese erfolgreich meistern.
Lebensaufgabe Ich-Kosmos-Beziehung
Die letzte Lebensaufgabe ist eine Zusammenführung der beiden oben genannten Lebensaufgaben nach Rudolf Dreikurs: Es geht um die Beziehung die man zu sich selbst pflegt und die Art und Weise, wie man sich mit dem Kosmos verbunden fühlt. Ein Gemeinschaftsgefühl, das unsere Dimension überschreitet. Irgendwann hören wir alle auf zu arbeiten, die Liebe unseres Lebens lebt auch nicht ewig oder die Beziehung scheitert aus irgendwelchen Gründen. Unser soziales Netz wird im Laufe des Lebens in der Regel kleiner, die Familie unabhängiger.
Was bleibt ist die Ich-Kosmos-Beziehung: Welchen Platz nehme ich in dem von mir gelebten Leben ein, wie gehe ich mit meinen Stärken und Schwächen um, mit meinen Ängsten, Sorgen und Bedürfnissen? Wie stehe ich zu meinem Körper, fühle ich mich gesund, bin ich in der Balance? Wie fit ist mein Geist, bin ich intellektuell genährt, kenne ich meine Werte, erlebe ich Sinn?
In diesem Lebensbereich wird das Gemeinschaftsgefühl auf eine etwas andere Art genährt: Es zeigt sich durch Präsenz, Klarheit und Verbindlichkeit – durch ein Bewusstsein seiner Selbst und einer klaren Haltung gegenüber seiner Umwelt.